Vorwort (Leseprobe)
Noch während der Arbeit an meiner Studie über die Geschichte der Wetzlarer Synagoge, der Mikwe und der jüdischen Friedhöfe in Wetzlar wurde mir klar, dass eine weitere, viel wichtigere Aufgabe im Zusammenhang mit der Aufarbeitung der Wetzlarer Stadtgeschichte zwischen 1933 und 1945 völlig ungelöst war: die Darstellung des Schicksals derjenigen jüdischen Bürgerinnen und Bürger, die sich nicht rechtzeitig durch Flucht der weiteren Verfolgung durch das Nazi-Regime entziehen konnten.
Nach anfänglichen Zweifeln, ob es mir als nicht in Wetzlar Geborenem zustehe, diese bedeutende Lücke in der Aufarbeitung der jüngeren Stadtgeschichte Wetzlars zu schließen, oder doch zumindest den Versuch dazu zu wagen, überwog die Überzeugung, dass 60 Jahre nach den Ereignissen die weitere Vertagung dieser Aufgabe nicht länger vertretbar sei. Bestärkt hat mich dabei die Tatsache, dass sich niemand in Wetzlar bisher ernsthaft dieser speziellen Thematik angenommen hatte. Einerseits hatten meine vorausgegangenen Arbeiten mir Kenntnisse über Fakten, Zusammenhänge, Hintergründe und auch über Akten- und Dokumentenbestände in zahlreichen Archiven eröffnet, die für die weitere Arbeit erforderlich waren. Andererseits wurde mir bewusst, dass Zeit- und Augenzeugen der damaligen Ereignisse, deren Erinnerung noch ungetrübt war, in immer geringerem Umfang auffindbar sein würden.
Trotz dieser Ausgangslage erwiesen sich die Nachforschungen im Einzelnen als überaus arbeitsintensiv, zeitraubend - und kostspielig. Umso dankbarer bin ich daher allen, die meine Arbeit gefördert und mit Wohlwollen begleitet haben. Dies gilt in besonderem Maße für Monica Kingreen, Fritz-Bauer-Institut Frankfurt am Main, Doktor Volker Eichler, Hessisches Hauptstaatsarchiv Wiesbaden, und Museumsdirektor Hartmut Schmidt, Wetzlar, für kritische Durchsicht meines Manuskriptes und zahlreiche wertvolle Hinweise. Die Aufarbeitung dieses in fast jeder Hinsicht finsteren Kapitels der jüngeren Wetzlarer Stadtgeschichte hinterlässt bei mir unauslöschliche Eindrücke. Hier war eine Geschichte nachzuerzählen, deren planvolle Umsetzung grauenvoll ist. Sie basierte zum Einen auf Verharmlosung und Verschleierung, hier besonders durch »Verwaltungsdeutsch« und »Behördensprache«. So fanden sich für die Deportationen mit anschließender Ermordung in den Vernichtungslagern die Bezeichnungen »Abschiebung«, »Abwanderung«, »Aussiedlung«, »Evakuierung«, »Verschub«, »Verzug« und »Wohnsitzverlegung«. Andererseits fußte sie auf Lügen und Etikettenschwindel, auf Scheinlegalität und Legalisierung der Vorgänge. So war es nicht immer leicht für mich, bei der Darstellung die gebotene Objektivität und Sachlichkeit zu beachten. Gerade der Respekt vor den Leiden der Betroffenen erfordert aber Genauigkeit, Klarheit und Vollständigkeit des Berichts über die damaligen Ereignisse. Das war mein Ziel. Trotz des großen Leids der Betroffenen kann ich für den genannten Zeitraum
auch von Beispielen mitfühlender Anteilnahme und nachbarlicher Hilfsbereitschaft für die Wetzlarer Juden berichten - soweit die damaligen Zeitumstände diese ohne eigene Gefährdung oder Gefährdung der Nächststehenden zuließen.
Ich wünsche meiner Arbeit aufmerksame und nachdenkliche Leser.
Karsten Porezag
Wetzlar, im Juni 2006