An Waffen jeglicher Art gänzlich uninteressiert, hätte ich nicht gedacht, jemals eine Dokumentation zur Regionalgeschichte von Geheimwaffen des Zweiten Weltkrieges zu verfassen. Der Anstoß dazu erfolgte auch eher zufällig. Bei der Arbeit zu meinem Buch »Bergbaustadt Wetzlar«, später auch bei meinen bergbauhistorischen Stadtführungen bekam ich von älteren Bürgern Hinweise, daß sich während des Zweiten Weltkrieges in den alten Bergwerksstollen unter der Stadt geheimnisvolle Dinge abgespielt hätten. Diesen Hinweisen ging ich nach.

Das Ergebnis überraschte, denn das Land an Lahn und Dill spielte bei der Entwicklung, Erprobung, dem Bau und zuletzt auch beim Einsatz von Hitlers »Vergeltungswaffen« - kurz » V- Waffen« - eine wesentliche Rolle. Die heimische Optik- und Schwerindustrie bot dafür besonders günstige technische und personelle Voraussetzungen. Wie bedeutend die Rolle Mittelhessens bei diesen Rüstungsproduktionen war, zeigt sich auch daran, daß Wernher von Braun kurz nach Kriegsende, im Juli 1945, nach Wetzlar kam, um sich bei Leitz Konstruktionsunterlagen und optische Geräte für seine Tätigkeit in den USA aushändigen zu lassen.

Darüber hinaus lagen einige der letzten V2-Abschußstellungen vor Kriegsende im Westerwald und bei Wirbelau; zwei ihrer letzten Gefechtsstände befanden sich kurzzeitig in Albshausen und Hartenrod, und die zurückweichenden Raketentruppen durchquerten das heutige Lahn-Dill-Gebiet, ja sogar die Stadt Wetzlar selbst. Auf dem Verschiebebahnhof Garbenheim befand sich einer der wenigen V2-Eisenbahn-Batteriezüge des Zweiten Weltkrieges.

Ebenso bemerkenswert ist, daß sich Hitler zusammen mit fast allen Reichsgrößen vom 10. Dezember 1944 bis zum 15. Januar 1945, kaum 20 Kilometer von Wetzlar entfernt, in seinem »Führerhauptquartier West« (Deckname »Adlerhorst«) in Ziegenberg bei Bad Nauheim aufhielt, zu welchem früher auch der »Führertunnel Hasselborn« gehört hatte.

Ein halbes Jahrhundert nach dem Krieg ist dies sicher die letzte Gelegenheit, jahrzehntelang geheimgehaltene Geschehnisse von besonderer Tragweite noch an den Originalschauplätzen und durch Aussagen vieler damals beteiligter Wissenschaftler, Techniker, Soldaten und Bürger zu dokumentieren.

Die Aktenlage erwies sich als problematisch. Besonders hinderlich dabei war die Tatsache, daß es im Zweiten Weltkrieg wegen der strengsten Geheimhaltung nur relativ wenige Dokumente über V- Waffen gab, die zudem zwischen dem 19. und 29. März 1945 aufgrund von Führerbefehlen -z. B. Geheime Kommandosache Nr. 002711/45 und ähnlich lautende Befehle des Oberkommandos der Wehr- macht und der Luftwaffe -vollständig zu vernichten waren. Was dennoch der Beseitigung entging, wurde bei Kriegsende sofort von alliierten Spezialeinheiten beschlagnahmt und steht uns heute teilweise zur Verfügung.

Auch die Beschaffung authentischen Bildmaterials erwies sich als schwierig. Bisher veröffentlichte Motive beschränken sich meist auf schon bekannte Propagandafotos oder Werksaufnahmen und haben nur selten einen Bezug zu unserer Region. Wer hätte damals schon gewagt, diese geheimsten aller Kriegswaffen zu fotografieren? Einige wenige Privatfotos sind daher absolute Glücks- fälle. So kommt den persönlichen Zeugnissen ganz zwangsläufig ein herausragender Stellenwert zu.

Was nun den Zeugniswert mündlicher Aussagen gegenüber schriftlichen Quellen anbelangt, erinnere ich mich gerne eines Hinweises, den mir der 1987 verstorbene Historiker und Leiter des Historischen Archivs der Stadt Wetzlar, Herbert Flender, freundschaftlich gab, wobei er nicht ohne humorvollen Seitenblick auf eigene Erfahrungen als Funkoffizier des Zweiten Weltkrieges sagte:

»Die exakte Ortung eines Punktes ist durch das Anpeilen aus mindestens zwei Richtungen möglich. Gleichermaßen kann die Angabe eines Zeitzeugen als sicher gelten, wenn mindestens eine weitere, besser natürlich mehrere Personen dieselbe Aussage machen, möglichst ohne jedoch voneinander zu wissen. Dann kann sich die mündliche Überlieferung als wertvolle Ergänzung zu vorhandenen Originalunterlagen erweisen.«

Heimische Literatur zum Zweiten Weltkrieg lag bis vor kurzem nur in sehr begrenztem Umfang vor, wobei ausnahmslos zeitgeschichtliche und ideologie- kritische Fragestellungen im Mittelpunkt standen. Technik- und regional- geschichtliche Aspekte konnte ich erst in jüngster Zeit ausführlicher behandeln. Dieses Buch soll daher dokumentieren, welchen besonderen Anteil das Land an Lahn, Dill und im Westerwald am Entwicklungs-, Produktions- und Einsatz- geschehen der V-Waffen hatte.

Ich hoffe, der Versuchung einer Bewertung der Geschehnisse nicht allzu oft erlegen zu sein. Dabei bin ich mir bewußt, daß es einfacher ist, aus historischem Abstand zu sagen, wie man sich hätte verhalten sollen, als in der geschichtlichen Situation selbst den richtigen Weg zu erkennen.

So ist in der Geschichtsschreibung die Versuchung groß, die Vergangenheit als rechtfertigendes, verdammungswürdiges oder warnenswertes Beispiel für die Gegenwart darzustellen. Die Gefahr einer historischen Verzeichnung ist aber besonders dann gegeben, wenn, wie im Falle des Nationalsozialismus, die Vergangenheit noch unmittelbar in die Gegenwart hineinwirkt und in vielen Bereichen noch längst nicht bewältigt ist. Objektive Geschichtsschreibung kann daher nur heißen: Darstellung der damaligen Geschehnisse unter besonderer Berücksichtigung der damaligen Verhältnisse.

Ohne vielfältige Unterstützung wäre diese Dokumentation kaum in der vorliegenden Form zustande gekommen. Hier ist vor allem drei Männern zu danken, deren berufliche Tätigkeit in der fraglichen Zeit eng mit den hier nachzuzeichnenden Vorgängen verbunden war. Es sind dies: Der Wetzlarer Dr. rer. nat. Helmuth Frenk, der in Peenemünde das militärisch exakte Richtverfahren der V2-Raketen einführte und vor den Versuchsschießen die automatischen Steuerungen technisch abnahm. Dieser bemerkenswerte Naturwissenschaftler und Augenzeuge stand mir unermüdlich mit Rat in physikalischen, technischen und chemischen Fragen zur Seite. Ferner Heinz-Kurt Schmidt aus Braunfels, der als engster Mitarbeiter des Erfinders und Konstrukteurs August Coenders in der geheimen Entwicklungsabteilung der Wetzlarer Röchlingwerke die Fertigung und Erprobung der Geheimwaffe V3 miterlebte und mir fünfzig Jahre danach seine intimen Kenntnisse hierüber in zahllosen Gesprächen vermittelte, sowie Prof. Dr. G h.c. Dipl.-Ing. Werner Sell aus Dillenburg, der im Krieg als oberster Bauchef der Reichsluftwaffe und dort »Sonderbeauftragter für unterirdische Anlagen des Deutschen Reiches« einen Fertigungsring für die VI im Dillkreis aufbaute. Darüber hinaus erhielt ich von zahllosen Zeitzeugen eine Fülle von Einzelhinweisen, die ich als wertvolle Bausteine einem Mosaik einfügen konnte.

Mein besonderer Dank für die freundliche Unterstützung gilt schließlich den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Bundesarchivs Koblenz und des Bundesarchivs -Militärarchiv -Freiburg, ferner den Herren Udo Dragesser in Runkel-Schadeck, Dipl.-Ing. Rudolf Fischer (+) in Wetzlar, Rainer Gasse in Battenfeld, Horst F. Hauschild in Homberg/Efze, Dipl.-Ing. Wilhelm Hellmold in Laasphe, Paul und Dieter Hild in Herborn, Ing. grad. Paul Hofmann (+) in Dillenburg,  Dr. Uli Jungbluth in Nauort, Walter Keul in Rodenroth, Rainer Klug in Herborn, Dr. Ludwig Leitz (+) in Wetzlar, Heinrich Schauss in Wetzlar, Hartmut Schmidt in Leun, Fritz Siewczynski in Alsbach und Werner Specht in Beilstein. Helmut Rösch aus Steindorf danke ich für die zeitweise Überlassung eines Teils seiner umfangreichen Militärliteratur.

Wetzlar, im November 1996