Steine Die Wetzlarer Synagoge, die Mikwe und die jüdischen Friedhöfe in neuerer Zeit

Mit der Deportation der letzten Wetzlarer Juden im Sommer 1943 in die nationalsozialistischen Vernichtungslager und mit ihrer anschließenden Ermordung endete die jahrhundertealte Geschichte der jüdischen Gemeinde Wetzlars. Auschwitz, Buchenwald, Majdanek, Theresienstadt, Treblinka ... Auch für Wetzlar markieren diese Ortsnamen das Ende der jüdischen Kultur. Der Zwischenaufenthalt einer großen Zahl osteuropäischer Juden in Wetzlar im Zeitraum von 1945 bis 1949 bedeutete dann nur noch ein kurzes Nachleuchten der Geschichte der Juden in unserer Stadt.

Mit dem Leben der europäischen Juden wollten die Nationalsozialisten auch für alle Zeit die Erinnerung an ihre wechselvolle Geschichte und reiche Kultur vernichten. Das wäre ihnen beinahe gelungen. Viele kleine Synagogen fielen aber nicht zwischen 1938 und 1945 dem Vandalismus der Nationalsozialisten zum Opfer, sondern erst späteren oft gedankenlosen Umnutzungen, Umbauten und Beseitigungen. Das gilt leider auch für die Wetzlarer Synagoge in der Pfannenstielsgasse.

Geblieben sind dagegen viele Gräber derer, die vorher in Wetzlar lebten und hier starben. Ihre Steine zeugen vom einst so facettenreichen jüdischen Leben in unserer Stadt. Es war ein wichtiger Teil des städtischen Lebens.

Dennoch war die Geschichte der jüdischen Gemeinde Wetzlars bis in die sechziger Jahre des vorigen Jahrhunderts fast unbeachtet geblieben. Herbert Flender, Stadtarchivar und Ehrenbürger der Stadt Wetzlar, beurteilte dies 1966 bei Besprechung der kurz zuvor erschienenen Arbeit von Dr. Karl Watz, "Geschichte der jüdischen Gemeinde in Wetzlar von ihren Anfängen bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts" folgendermaßen:

"...In allen bisherigen Veröffentlichungen über die Wetzlarer Stadtgeschichte spielt die Geschichte der jüdischen Gemeinde naturgemäß eine völlig untergeordnete Nebenrolle. Erst jetzt sieht man, wie wichtig es war, dieser Geschichte einmal volle Aufmerksamkeit und ein eigenes Werk zu widmen. Die Stadtgeschichte wird an vielen Stellen nun deutlicher, plastischer, erklärbarer. Des halb kann in Zukunft kein Liebhaber der Heimatgeschichte mehr an dieser vorzüglichen Arbeit vorübergehen, so wenig innere Freude und Befriedigung es auch auslösen kann, sich in ein solch dunkles und betrübliches Kapitel unseres geschichtlichen Werdegangs zu vertiefen.
Man wird fragen, warum die letzten hundert Jahre der Geschichte der jüdischen Gemeinde fehlen. Die Antwort kann nur lauten, daß die Quellen noch nicht genügend erschlossen sind bzw. sogar gänzlich fehlen, um eine zuverlässige Darstellung wagen zu können.
Wie dringend notwendig eine Fortsetzung bis in unsere Zeit wäre, davon ist jeder überzeugt, der die Watz 'sche Arbeit durchstudiert hat."

In der Tat hat niemand in den folgenden 38 Jahren eine umfassende Fortschreibung der neueren Geschichte der Wetzlarer jüdischen Gemeinde und ihrer Einrichtungen vorgelegt. Lediglich einige wenige Teilaspekte wurden bisher beleuchtet. Das Verständnis für die so wichtigen Ereignisse in der nationalsozialistischen Zeit wurde damit kaum angemessen geweckt, geschweige denn gefördert. Die Geschichtsschreibung zum Wetzlarer Judentum sollte sich sinnvollerweise auf die Bereiche der jüdischen Gemeinde, der jüdischen Familien und die der jüdischen Einrichtungen erstrecken. Doris und Walter Ebertz schreiben an der "Geschichte der jüdischen Familien der Stadt Wetzlar von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis in die Gegenwart". Diese Arbeit soll das Schicksal der jüdischen Gemeinde Wetzlars für jenen Zeitraum mit umfassen. Es wäre wünschenswert, wenn sie recht bald publiziert werden würde.

Während dort mehr die Menschen und ihre Schicksale im Vordergrund stehen, habe ich mich der neueren Geschichte der wichtigsten Kultuseinrichtungen und Immobilien der einstigen jüdischen Gemeinde Wetzlars zugewandt: die der Synagoge (auch: "Schule"), der Mikwe (auch Mikwah = hebräisch: Wasseransammlung = jüdisches rituelles Tauchbad) und der jüdischen Friedhöfe von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis in unsere Zeit. Auch diese verdienten eine eingehende Untersuchung. Dabei konnte ich über die weitere Erschließung bereits vorhandenen Materials hinaus eine Vielzahl neuer Quellen heben und auswerten. Sie befinden sich zum weit überwiegenden Teil außerhalb Wetzlars. Das Ergebnis dieser Arbeit soll hier vorgestellt werden. 

Karsten Porezag

Wetzlar, im August 2004