Vorwort und Einleitung (Leseprobe)

Für den Triumph des Bösen reicht es,
wenn die Guten nichts tun.
EdmundBurke (1729-1797)

Vorwort

Etwa sechs Millionen Juden und schätzungsweise 250 000 Sinti und Roma wurden bis Ende des Zweiten Weltkrieges von den Nationalsozialisten und ihren Kollaborateuren ermordet.1 Von den circa 566 000 Juden, die bei Hitlers Machtantritt in Deutschland gelebt hatten, wurden rund 200 000 Opfer der NS-Vernichtungspolitik. Unter ihnen waren Tausende, die im Vorfeld der Deportationen an die Mordstätten Selbstmord begingen.

Die Zahl der jüdischen Emigranten, die Deutschland zwischen 1933 und 1941 verlassen mussten, betrug etwa 346 000, einschließlich der 98 000 Juden, die in die später von den Deutschen besetzten europäischen Länder auswanderten.2 Im Zeitraum zwischen Januar 1933 und der Schließung der amerikanischen Konsulate in Deutschland im Juli 1941 flüchteten rund 104 000 Menschen in die USA. Über 80 Prozent von ihnen waren Juden.3

Es gab aber auch Menschen, die während der NS-Zeit viele Juden bei ihrer Emigration unterstützten. Einer von ihnen war der Großunternehmer Ernst Leitz II in Wetzlar. Wer war dieser Mann, und was bestimmte sein Handeln? Zur Beantwortung dieser Fragen soll hier kurz auf seine Familiengeschichte und die Wurzeln des späteren Leitz-Konzerns eingegangen werden.

In Mittelhessen, etwa 80 km nördlich von Frankfurt am Main, befanden sich einst zahlreiche bedeutende Eisenerzgruben und Hüttenwerke. Einer der größten 
Montanunternehmer der Region, der Fürst zu Solms-Braunfels, besaß im 19. Jahrhundert Eisenhüttenwerke mit Gießereien, davon eines in Oberndorf, einem kleinen Ort zwischen Wetzlar und Braunfels. Hüttenverwalter war dort Philipp Albrecht Kellner, der Vater Carl Kellners (1826-1855), des späteren Begründers der optisch-feinmechanischen Industrie Wetzlars. Der Sohn hatte sich der Optik verschrieben und fertigte in seiner 1849 in Wetzlar gegründeten Werkstätte bis zu seinem frühen Tod 1855 anerkannt gute Mikroskope.4 Nach seinem Tod führte ein ehemaliger Mitarbeiter die kleine Werkstatt weiter. Im März 1864 trat Ernst Leitz I, aus Baden kommend, dort ein. Er hatte seit 1858 in Pforzheim bei Ludwig Christian Oechsle gearbeitet, dem Erfinder der „Oechsleschen Mostwaage". 1870 übernahm Ernst Leitz I die Werkstatt in Wetzlar mit 20 Optikern und Mechanikern. In den folgenden Jahrzehnten verschaffte er seinem Betrieb einen stetigen Aufschwung, insbesondere durch Rationalisierung und Arbeitsteilung in der Fertigung: Bis zum Jahr 1887 waren bereits 10 000 Mikroskope hergestellt worden, 1902 hatte die Firma 300 Mitarbeiter, 1923 - im Baujahr der ersten Serie der Leica-Kamera - 1591 Beschäftigte und 1939 bereits 3321 Angestellte und Arbeiter.5

Ernst Leitz I (geb. 26.4.1843 Schopfheim b. Lörrach, gest. 10.7.1920 Solothurn/ Schweiz) und seine Ehefrau Anna, geb. Löhr (geb. 23.4.1844 Wetzlar, gest. 2.6.1908 Wetzlar) hatten fünf Kinder: Ludwig (geb. 2.6.1867 Wetzlar, gest. 6.11.1898), Ernst Leitz II (geb. 1.3.1871 Wetzlar, gest. 15.6.1956 Giessen), Paula (geb. 12.6.1875), Ella (geb. 28.8.1876, gest. 27.9.1965 Meran)6 und Anna (geb. 31.8.1878)7

Leica1923 Ursprünglich sollte der älteste Sohn Ludwig die Nachfolge des Vaters Ernst Leitz I antreten. Nachdem Ludwig jedoch schon 1898 im 21. Lebensjahr durch einen Unfall verstorben war, übernahm der jüngere Bruder Ernst Leitz II nach und nach die Leitung des Unternehmens. 1924 entschied er gegen den Rat vieler Fachleute,8 die in seinem Werk neu entwickelte Leica9-Kleinbildkamera in Serie produzieren zu lassen. Damit schuf er einen Verkaufsschlager, der die Leitzwerke bald zum Weltmarktführer auf dem Sektor der Kleinbildkameras mit Wechselobjektiven machen sollte. Der Umsatz der Leitzwerke auf dem Fotosektor stieg später bis auf 70 Prozent des Gesamtumsatzes.10

Ernst Leitz II und seine Ehefrau Hedwig, geb. Wachsmuth (geb. 10. 11. 1877 Hannover, gest. 28. 4. 1937 Wetzlar), hatten vier Kinder: Elsie Anna Grace (geb. 12. 2.1903 Wetzlar, gest. 5. 8. 1985 Wetzlar),11 Ernst Alexander (geb. 16. 1. 1906 Wetzlar), Ludwig (geb. 28. 5.1907 Wetzlar, gest. 4. 7.1992 Wetzlar)12 und Günther (geb. 14.10.1914Giessen).

Ernst Leitz II13 hatte eine liberale und demokratische Grundeinstellung. Er war Vorstandsmitglied der Deutschen Demokratischen Partei14 für die Provinz Hessen-Nassau und aktives Mitglied des „Reichsbanners Schwarz-Rot-Gold",15 jener reichsweiten Vereinigung, die sich die Verteidigung der Demokratie auf die Fahne geschrieben hatte. Im März 1941 trat er jedoch in die NSDAP ein - allerdings wohl auf äußeren Druck, um sein Unternehmen vor Schaden zu bewahren.16 Auch er musste daher nach dem Krieg ein Spruchkammer-Verfahren17 durchlaufen, aus dem er jedoch als „Entlasteter" hervorging.18

Im Jahr 1998, bei den Recherchen zu meiner Studie „Zwangsarbeit in Wetzlar",19 bearbeitete ich seine Spruchkammer-Akten im Hessischen Hauptstaatsarchiv Wiesbaden zusammen mit denen der anderen Wetzlarer Rüstungsfabrikanten des Zweiten Weltkrieges. Seine Unterlagen enthielten neben Angaben zu den in seinem Unternehmen von 1942 bis 1945 beschäftigten Zwangsarbeiter/innen20 auch Hinweise darauf, dass er während der NS-Zeit deutsche Juden bei ihrer Emigration unterstützte.

Diese für meine damaligen Fragestellungen weniger relevanten Erkenntnisse gewannen erst später an Bedeutung bei den Recherchen über die Deportation und Ermordung der letzten Wetzlarer Juden,21 insbesondere im Hinblick auf die Fluchthilfe, die seine Tochter Dr. Elsie Kühn-Leitz 1943 einer in „privilegierter Mischehe"22 lebenden Wetzlarer Jüdin gewährte, um sie vor der Deportation in ein Vernichtungslager zu bewahren.

Den Anstoß zu der hier vorgelegten Arbeit gaben schließlich amerikanische Fotojournalisten, die im Herbst 2003 in Wetzlar sehr engagiert über einen „Leica Freedom Train"23 berichteten. Danach habe Ernst Leitz in den 1930er-Jahren Hunderten deutscher Juden zur Flucht in die USA verholfen und sie so vor der sicheren Vernichtung gerettet. Er sei der „Schindler der deutschen Fotoindustrie".

Erste Nachforschungen ergaben, dass diese Sichtweise damals bereits weltweit verbreitet war - allerdings hatte niemand historische Belege dafür vorgelegt. Die Angaben in den Spruchkammer-Akten von Ernst Leitz über die von ihm unterstützten Juden bildeten zwar den Ausgangspunkt meiner Untersuchungen, sie allein sind jedoch nur bedingt geeignet, sein Handeln in den 1930er-Jahren verlässlich zu bewerten, da sich in den Akten außer einigen Namen betroffener Personen und verschiedenen Ortsangaben keine weiteren Daten finden. Hinzu kommt, dass Spruchkammer-Akten insgesamt kritisch zu beurteilen sind, da einerseits die „Betroffenen" („Angeklagten") oft finanziell in der Lage waren, sich Mittel und Wege für ihre Verteidigung zu beschaffen, um die Beschuldigungen zu widerlegen. Andererseits hofften auch viele Zeugen - zumeist die einstmals Geschundenen und Gedemütigten - manche alte Rechnung begleichen zu können.

Die Recherchen zu dieser Arbeit nahmen mehr als fünf Jahre in Anspruch. Den Fortgang meiner Studien haben dabei immer wieder folgende Personen in besonderer Weise gefördert:24 Monica Kingreen, Fritz Bauer Institut, Frankfurt am Main, und Dr. Beate Kosmala, Gedenkstätte Deutscher Widerstand, Berlin, insbesondere mit der kritischen Durchsicht des Manuskriptes und zahlreichen Ergänzungen und wertvollen Hinweisen. Herrn Dr. Volker Eichler, Hessisches Hauptstaatsarchiv Wiesbaden, sei gedankt für die stetige und nachhaltige Unterstützung meiner jahrelangen Archivarbeit in seinem Hause, und schließlich gilt mein ganz besonderer Dank dem Wetzlarer Museumsdirektor i. R. Hartmut Schmidt in Neuss für die zahlreichen förderlichen Gespräche. Rina Eilon in Jerusalem danke ich sehr herzlich für die Erlaubnis zur Verwendung verschiedener Zeitdokumente aus ihrem Privatarchiv.

Wetzlar, im März 2009    Karsten Porezag

Einleitung

Leitz1943 Im Jahr 2003 ging eine Nachricht um die Welt: „Der deutsche Unternehmer Ernst Leitz II, der Hersteller der Leica-Kamera, hat in den dreißiger Jahren des vorigen Jahrhunderts mit Hilfe seines ,Leica Freedom Train' unter großen persönlichen Gefahren Hunderte von deutschen Juden vor der sicheren Vernichtung gerettet."25 Die amerikanische „Anti-Defamation-League" (ADL)26 verlieh ihm daraufhin posthum am 9. Februar 2007 in Palm Beach/Florida ihren „Courage to Care Award". Die Begründung dazu lautete: „Deutscher Gründer des Leica Kamera-Freedom Train geehrt für die Rettung hunderter Juden vor den Nazis. [...] Der deutsche Eigentümer der Gesellschaft, die Leica-Kameras fertigt, wurde [...] dafür geehrt, dass er vermutlich 200 bis 300 Angestellte und ihre Familien vor den Nazis rettete."27

In Wetzlar, dem Hauptort des einstigen Geschehens, wussten zu der Zeit aber nur Eingeweihte davon. Auch der Wetzlarer Geschichtsverein hatte sich mit dieser Sache bis dahin anscheinend noch nicht beschäftigt. So zeigten sich im Herbst 2006 Mitglieder der „American Leica Historical Society" bei einem Aufenthalt in der Stadt erstaunt darüber, „dass man hier den weltberühmten Leica Freedom Train nicht angemessen würdige, werde doch der Wetzlarer Unternehmer Ernst Leitz von Historikern des Holocaust wegen seines mutigen Handelns in den dreißiger Jahren des vorigen Jahrhunderts bei der Rettung der Wetzlarer Juden vor ihrer Vernichtung als ,Schindler28 der deutschen Fotoindustrie' bezeichnet".29 Dieser Vergleich lässt aufhorchen, hatte doch Oskar Schindler zwischen 1942 und 1945 mehr als 1100 Juden aus dem Krakauer Ghetto vor der sicheren Ermordung gerettet.30

Was verbirgt sich hinter dem „Leica Freedom Train"? George Gilbert, ein amerikanischer Fotojournalist, formulierte dies so: „Ernst Leitz II, der stahläugige protestantische Patriarch der straff geführten Leitz GmbH, agierte - während der Holocaust Europa bedrohte - in einer Art und Weise, dass er den Titel ,Schindler der Fotografischen Industrie' verdient. Um seinen jüdischen Mitarbeitern und Kollegen zu helfen, etablierte er im Stillen etwas, das unter Historikern des Holocaust bekannt wurde als ,The Leica Freedom Train'. [...] Dieser erreichte 1938 und im Frühjahr 1939 den Höhepunkt, als Ernst Leitz alle paar Wochen Gruppen von Flüchtlingen nach New York leitete. [...] In jener Zeit entkamen durch seine Anstrengungen Hunderte vor der Gefahr geretteter Juden nach Amerika. [...] Warum hat bisher niemand diese Geschichte erzählt?"31

Nach Norman C. Lipton wollte die Familie Leitz keine Publizität für die „heldenhaften Anstrengungen" von Ernst Leitz. Erst nachdem die ältere Generation der Familie Leitz verstorben war, wurde die Geschichte des Leica Freedom Train wieder ans Licht der Öffentlichkeit gebracht.32 Später war George Gilbert gemeinsam mit Norman C. Lipton, einem ehemaligen New Yorker Leitz-Mitarbeiter, noch weiter gegangen: Sie behaupteten, die Familie Leitz habe außerdem auch Gewerkschafter, Homosexuelle und politisch Radikale unterstützt.33

Derartige Aussagen gehen zurück auf frühe amerikanische Publikationen: Bereits 1967 soll Lipton diese Geschichte dem Readers Digest angeboten haben. Etwa zehn Jahre später erschien ein Beitrag in einem Buch mit dem Titel „Illustrated World Wide Who's Who of Jews in Photography".34 Frank Dabba Smith, ein Londoner Rabbiner und Leica-Hobbyfotograf, veröffentlichte 1998 im „Journal of Progressive Judaism" einen Aufsatz mit dem Titel: „Ernst Leitz of Wetzlar and the Jews", in dem er auch über den „Leica Freedom Train" berichtete.35 Im April 2000 erschien eine deutsche Version davon in der Marburger Zeitschrift „Fotogeschichte".36 Im Mai 2002 veröffentlichte George Gilbert einen weiteren Aufsatz in den Mitteilungen der „Photographic Historical Society Of Canada" mit dem Titel: „The Hidden Leica Story".37 Im gleichen Jahr publizierte Frank Dabba Smith den Aufsatz „Ernst Leitz of Wetzlar and Altruism during the Holocaust".38 Diese Arbeit wurde später in den USA von George Gilbert unter dem Titel „The Leica Freedom Train" publiziert - offensichtlich mit eigenen Ergänzungen.39

Im Jahr 2005 veröffentlichte Frank Dabba Smith schließlich bei der „American Photographic Historical Society, New York", den Aufsatz: „The greatest invention of the Leitz family: The Leica Freedom Train."40 Spätestens jetzt waren auch europäische Medien auf die Sache aufmerksam geworden. Im August 2006 meldete das spanische Fotomagazin Elmundo es Suplementos: „Ernst Leitz, el angel de los judios que crea leica. Este Oskar Schindler de la fotografia. El tren dela libertad de Leica",41 und am 27. Februar 2007 titelte der italienische II Giornale: „Ernst Leitz, industriale tedesco ehe salvo centi dipendenti ebrei".42

Etwa zeitgleich berichteten erstmals auch deutsche Medien darüber. „Die Welt" titelte am 9. Februar 2007: „Unternehmer Ernst Leitz: Der andere Schindler [...] Der gute Mensch von Wetzlar [...] Erst jetzt deckt ein Rabbiner aus London seine Geschichte auf". Dieser Bericht von Thomas Kielinger basierte auf einem Interview mit Frank Dabba Smith. Damit wurde der Eindruck erweckt, Frank Dabba Smith selbst habe die Sache erst kürzlich durch eigene Recherchen aufgedeckt.43 Bereits eine Woche zuvor berichtete die „Financial Times Deutschland", nach Frank Dabba Smiths Aussage habe Ernst Leitz „mindestens 41 Juden geholfen, aus Deutschland zu fliehen [...] in bemerkenswerten Transportserien [...] und Konvois" und: „[...] er rettete Wetzlars Juden".44 Smith relativierte nun erstmals seine These, Ernst Leitz habe Hunderten Juden das Leben gerettet, aber der Leica Freedom Train spielte immer noch eine Rolle. In der Folge überboten sich die deutschen Printmedien förmlich. Mit dem Titel: „Leitz' Liste" schrieb die „Süddeutsche Zeitung" in ihrem Magazin am 16. Februar 2007, Ernst Leitz habe „in den 30er Jahren mindestens 41 Juden zur Flucht aus Nazi-Deutschland verhelfen und 23 Menschen vor einer Bestrafung gemäß den Rassegesetzen gegen Ehen zwischen Juden und Deutschen [sie!] geschützt".45 Am selben Tag schrieb die Münchner „Abendzeitung": „Der unbekannte Schindler. Ernst Leitz rettete Juden vor den Nazis - und keiner wusste es. [...] Erst jetzt wird bekannt, dass er ein Held war." Am 17. Februar 2007 griff auch „Bild" das Thema auf und titelte: „Leitz' Liste. So rettete der Leica-Chef 41 Juden."

Welche Wirkung solche Medienberichte auf eine breite Öffentlichkeit haben, zeigt die Einschätzung des Anzeigenblatts „Sonntagmorgenmagazin" (Wetzlar) am 18. Februar 2007: „Im Gegensatz zu Schindler hat Leitz den jüdischen Bürgern jedoch schon rechtzeitig die Möglichkeit zur Ausreise aus dem vom Naziregime unterworfenen Land ermöglicht, noch bevor diese in die Konzentrationslager verschleppt wurden." Damit wurde das Handeln von Ernst Leitz sogar noch über das von Oskar Schindler gestellt. Einen Tag später erschien schließlich ein Bericht im „Stern" unter dem Titel: „Der Leica-Schindler", in dem es hieß: „Ähnlich wie Oskar Schindler rettete er jüdische Angestellte vor dem KZ und dem sicheren Tod."

Zur selben Zeit fand sich bei Google unter dem Suchbegriff „Leica Freedom Train" neben mehr als 48 000 Einträgen ein vierminütiger Tonfilm - mit pfeifenden Dampflokomotiven.46

Die Art der Berichterstattung über ein Ereignis, für das bis dahin kaum ein Beweis vorlag, und die Gewichtung der Person - durch den Vergleich mit Oskar Schindler - warfen zwangsläufig die Frage auf, welche Belege es zum Leica Freedom Train wirklich gibt. Das Ergebnis meiner sechsjährigen Nachforschungen sei hier vorweggenommen: nur wenige. Es handelt sich vielmehr um eine „Rettungslegende", die allerdings aus einem wahren Ansatz heraus entstand.

Dass solche „Meldungen" auch 65 Jahre nach dem Holocaust von Zeitschriften wie „Financial Times Deutschland", „Stern", „Die Welt", „Süddeutsche Zeitung" und anderen Blättern ohne jede fundierte Recherche übernommen wurden, muss nachdenklich stimmen. Auch die amerikanische „Anti Defamation League" hat mit der Verleihung ihres „Courage to Gare Award" für „die Rettung von vermutlich 200 bis 300 Angestellten und ihren Familien" wohl allzu vorschnell gehandelt. Dabei sollte es selbstverständlich sein, dass Vorgänge der hier in Rede stehenden Art und angesichts dieser Dimension vor allem verlässliche Recherchen, eine nachprüfbare Dokumentation und eine angemessene Würdigung im zeitgeschichtlichen Kontext erfordern. Eine unreflektierte Legendenbildung und deren unüberprüfte Tradierung wird niemandem gerecht - mehr noch: Sie ist hier durchaus geeignet, das Ansehen von Ernst Leitz zu beschädigen. Dabei sollte immer im Auge behalten werden, dass die couragierten Leitz'schen Hilfsleistungen für verfolgte Juden über jeden Zweifel erhaben sind.

Was geschah aber wirklich? 

Ernst Leitz hat bis zum Frühsommer 1939, als die Juden aus Deutschland emigrieren mussten (aus heutiger Sicht: noch emigrieren konnten) in 21 Fällen insgesamt 45 Juden im Zuge ihrer Emigration unterstützt. Welche jüdischen Personen Hilfe erhielten, auf welche Art und wann das geschah, das soll hier dargestellt werden. Gegenstand meiner Recherchen waren zum einen die Schicksale deutscher jüdischer Emigranten, die Ernst Leitz in seinem Wetzlarer Unternehmen beschäftigte bzw. die in seinen ausländischen Filialen angestellt wurden, zum anderen aber auch derjenigen jüdischen Verfolgten, denen der Unternehmer in anderer Form Unterstützung und Hilfe zukommen ließ.

Leitz' Hilfe für einige der nach 1943 noch in Wetzlar lebenden, nach damaliger Diktion halb- oder vierteljüdischen47 Nachkommen emigrierter oder ermordeter Wetzlarer Juden sind nicht Gegenstand dieser Untersuchung, da über deren Schicksal bereits berichtet wurde.48 Seine Unterstützung politisch verfolgter nichtjüdischer Personen soll hier nur im Fall seines Konzern-Verkaufsleiters Alfred Türk (geb. 24.4.1874 Straßburg, gest. 16.10.1967 Gräfelfmg b. München) mit einbezogen werden, da dieser im Zusammenhang mit zwei Leitz'schen Empfehlungsschreiben für jüdische Emigranten von der Gestapo verhaftet wurde. Dieser Vorgang gibt einen Hinweis auf den Grad der persönlichen Gefährdung für Ernst Leitz bei seiner Unterstützung von Juden.

Um seine Hilfeleistung in der Zeit bis 1939 angemessen beurteilen zu können, muss diese unter besonderer Berücksichtigung der wechselnden Modalitäten der nationalsozialistischen Ausgrenzungs- und Vertreibungspolitik und der vielschichtigen Immigrationsverhältnisse in den Aufnahmeländern gesehen werden. Darüber hinaus sind die damalige Leitz'sche Unternehmenssituation und seine persönliche Haltung zu berücksichtigen.

Die folgende Darstellung widmet sich daher zuerst den Grundsatzfragen der Vertreibung der Juden aus NS-Deutschland und den unerlässlichen Voraussetzungen für die Einwanderung in die unterschiedlichen Aufnahmeländer wie die Vereinigten Staaten von Amerika, Großbritannien, Palästina und Brasilien. Ohne die genaue Kenntnis dieser Hintergründe ist eine Beurteilung der Hilfeleistungen von Ernst Leitz ebenso wenig möglich wie ohne das Wissen um die Existenz des hier erstmals belegten jüdischen New Yorker Bürgschaft-Spenders Ludwig Seligmann, der aus Wetzlar stammte. Allein seine Hilfe ermöglichte damals zahlreichen Wetzlarer Juden die Immigration in die USA.

Im Anschluss daran werden folgende Fragen zur Person von Ernst Leitz gestellt: Welche Mittel und Wege standen diesem Unternehmer bei seiner aktiven Hilfe zur Verfügung und wie groß war seine eigene persönliche Gefährdung bei seiner Unterstützung? Schließlich soll die Frage geklärt werden, wie viele jüdische Emigranten er bei ihrer Emigration unterstützte, und zum Schluss folgen Kurzbiografien der betreffenden jüdischen Emigranten.


Fußnoten

  1. Nach: Encyclopaedia Judaica, Second Edition, Volume 9, Detroit, NY 2007, S. 343,ferner Wolfgang Benz/Hermann Graml/Hermann Weiß (Hrsg.), Enzyklopädie des Nationalsozialismus, 5. Aufl., München 2007, S. 52.
  2. Israel Gutman (Hrsg.), Enzyklopädie des Holocaust, Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden, Band I, Berlin 2002, S. 342 f.
  3. Donald Peterson Kent, The Refugee Intellectual: The Americanization of the Immigrants 1933-41, New York 1953, S. 12,17 ff.
  4. Siehe dazu ausführlich Rarsten Porezag, Die Wetzlarer Familie Carl Kellner und das optische Institut, in: MWGV, 42. Band, Wetzlar 2004, S. 167-285, ferner ders., Hensoldt., Geschichte eines optischen Werkes in Wetzlar, Band l, Wetzlar 2001, 4. Kapitel, S. 106 ff.: Moritz Hensoldt und Carl Kellner. Dass Wetzlar später zu einem Weltzentrum der Optik und Feinmechanik werden sollte, war daher prinzipiell Zufall.
  5. Nach Willi Erb, Die Leitz-Werke, Optische Werke Wetzlar. Ihre Geschichte und ihre Bedeutung für den Raum Wetzlar, Marburg 1955, S. 42 ff., 167 f.
  6. Siehe dazu auch S. 101, Anm. 239 ff., Ella Bocks, geb. Leitz, 1943 in München.
  7. Nach: AE (Historische Akten des Wetzlarer Einwohnermeldeamtes).
  8. Viele Experten befürchteten, das hohe Ansehen der Leitzwerke durch die weltweit anerkannten wissenschaftlichen Mikroskope würde durch das Fotogeschäft „profaniert", und eine so teure Kamera würde auch niemals in großen Stückzahlen verkauft werden können. Nach Erb, Die Leitz-Werke, S. 104 f.
  9. Leica = Lei(tz)Ca(mera). Siehe dazu auch S. 86, Anm. 201.
  10. Knut Kühn-Leitz (Hrsg.), Ernst Leitz. Wegbereiter der Leica, Königswinter 2006, S. 14.
  11. Nach Klaus-Otto Nass (Hrsg.), Elsie Kühn-Leitz. Mut zur Menschlichkeit, Bonn 1994, S. 30 ff., promovierte sie 1936 an der juristischen Fakultät der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität Frankfurt am Main.
  12. Siehe dazu auch S. 114, Anm. 286 (Julius und Eise Huisgen), und S. 138 (Heinrich Steiner).
  13. Zur Vereinfachung im Folgenden Ernst Leitz genannt.
  14. Die Deutsche Demokratische Partei (DDP 1918-1933) identifizierte sich mit der parlamentarischen Demokratie der Weimarer Republik und bekannte sich zu individueller Freiheit und sozialer Verantwortung.
  15. SKL III, S. 2. Das „Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold" wurde 1923 in Magdeburg von Mitgliedern der SPD, der Deutschen Zentrumspartei, der DDP und Gewerkschaften gegründet.
  16. SKL II, S. 3. Danach habe der frühere Wetzlarer Bürgermeister Kindermann 1947 an Eides statt erklärt, er habe etwa 1938 bei der Gauleitung in Frankfurt am Main erfahren: Wenn Dr. Leitz und auch mindestens einer seiner Söhne nicht in Kürze in die Partei einträten, würden alle Mitglieder der Familie Leitz von der Betriebsführung ausgeschlossen. Er, Kindermann, habe dem Betroffenen dann dringend geraten, pro Forma in die Partei einzutreten.
  17. Die Spruchkammern waren gemäß Artikel 35 des „Gesetzes zur Befreiung vom Nationalsozialismus und Militarismus vom 5. März 1946" eingesetzt worden, um die Verbrechen während des Zweiten Weltkrieges zu sühnen. Dieses Gesetz sollte jedoch kein Strafgesetz im Wortsinne sein, sondern ein „Befreiungs- und Sühnegesetz". Dem entsprach die Terminologie „Betroffener" (nicht „Angeklagter"), „Öffentlicher Kläger" (nicht „Staatsanwalt"), „Sühnemaßnahmen" (nicht „Strafen"), „Spruch" (nicht „Urteil"), „Verantwortlichkeit" (nicht „Schuld") usw. Vgl. Erich Schulze (Hrsg.), „Gesetz zur Befreiung vom Nationalsozialismus und Militarismus vom 5. März 1946", 2. Aufl., München 1947.
  18. SKL II.
  19. Karsten Porezag, Zwangsarbeit in Wetzlar. Der „Ausländer-Einsatz" 1939-1945. Die Ausländerlager 1945-1949, Wetzlar 2002.
  20. Ebenda, S. 164 f., 366: Nachweis des Wetzlarer Landrates vom 18. Januar 1945 für die Gestapo Frankfurt am Main über die Zwangsarbeiterlager in der Stadt Wetzlar. Danach beschäftigte die Ernst Leitz GmbH seit September 1942 insgesamt 195 Ausländer - im Januar 1945 waren es 989 Zwangsarbeiter/innen: 643 „Ostarbeiter/innen", vorwiegend aus der Ukraine, und 316 „Westarbeiter/innen" aus Frankreich und den Benelux-Ländern. Nach Frank Dabba Smith, Ernst Leitz of Wetzlar and Altruism During the Holocaust, in: Aspects of Liberal Judaism, London 2004, S. 9, ferner nach Knut Kühn-Leitz (Hrsg.), Ernst Leitz, Ein Unternehmer mit Zivilcourage in der Zeit des Nationalsozialismus, Hanau 2007, S. 107, beschäftigte Leitz hingegen lediglich „ungefähr 600 Frauen aus der Ukraine".
  21. Karsten Porezag, Als aus Nachbarn Juden wurden. Die Deportation und Ermordung der letzten Wetzlarer Juden 1938-1943/45, Wetzlar 2006.
  22. Nach nationalsozialistischer Gesetzgebung bezeichnete dies eine Ehe zwischen einem „arischen" und einem „nichtarischen" Ehepartner bzw. eine Ehe, in der die Kinder einer christlichen Kirche angehörten. Vgl. hierzu ausführlich Porezag, Als aus Nachbarn Juden wurden, S. 128 ff.
  23. Der Begriff „Freedom Train" geht vermutlich zurück auf die Ereignisse um befreite Sklaven im amerikanischen Sezessionskrieg.
  24. Eine schriftliche Anfrage vom 26. Januar 2007 bei Dr. Knut Kühn-Leitz in Wetzlar, einem Enkel von Ernst Leitz II, im Hinblick auf dort eventuell vorhandene weitergehende Erkenntnisse zu diesem Thema blieb leider unbeantwortet.
  25. Diese und ähnliche Schilderungen fanden sich noch 2008 in zahllosen Internet-Auftritten unter dem SuchbegrifF „Leica Freedom Train".
  26. Die 1913 gegründete „Anti Defamation League" ist die weltweit führende Organisation gegen Antisemitismus. Ihr „Courage to Gare Award" (Auszeichnung: „Mut zum Handeln") wurde bis Februar 2007 insgesamt 31-mal vergeben; vgl. www.adl.org.
  27. Ebenda: „German Creator of Leica Camera .Freedom Train' Honoured for Saving Hundreds of Jews from The Nazis. [...] The German owner of the Company that manufactures Leica cameras was honoured [...] for saving an estimated 200 to 300 employees and their families." Die Nennung von „200 bis 300 Angestellten mit ihren Familien" bedeutet insgesamt ein Mehrfaches davon an Personen.
  28. Oskar Schindler reklamierte für seine Produktionsstätte in Plaszow (Polen) Hunderte jüdischer Arbeitskräfte und rettete diese vor ihrer Ermordung in den Vernichtungslagern. Zum Leben und Wirken Schindlers vgl. David M. Crowe, Oskar Schindler, Frankfurt a. M. 2005, und Thomas Keneally, Schindlers Liste, München 1994. Siehe dazu S. 165 ff.
  29. So die Angabe von Christel Abel, Ehringshausen, am 2. Oktober 2006, die die amerikanischen Gäste durch Wetzlar geführt hatte.
  30. Der Film „Schindlers Liste" thematisierte die Ereignisse und machte sein Handeln weltweit bekannt.
  31. www.zonezero.com: „Leica freedom train. An interesting piece of photographic history by George Gilbert".
  32. So habe Norman C. Lipton 1967 dem Sohn Günther Leitz vorgeschlagen, die „Geschichte des Untergrund-Zuges aus Deutschland" zu schreiben. Günther Leitz habe sich daraufhin entrüstet: „Nicht, solange ich lebe!" Vgl. hierzu Frank Dabba Smith, Ernst Leitz aus Wetzlar und die Juden, in: Fotogeschichte, 20. Jg., Heft 76, Marburg 2000, S. 49 ff., 54 f., und Smith, Ernst Leitz of Wetzlar and Altruism, S. 9. Siehe auch Schlussbemerkungen, S. 161 ff.
  33. George Gilbert, About the Leica Camera and the Leica Freedom Train, in: Viewfinder. Quartly Journal of the Historical Society of America, Vol. 35, No. 2.
  34. Autor: George Gilbert.
  35. Journal of Progressive Judaism, Sheffield/GB, No. 10, Mai 1998, S. 8.
  36. Fotogeschichte, Beiträge zur Geschichte und Ästhetik der Fotografie, Jg. 20, Heft 76, Marburg 2000, S. 49 ff.
  37. www.phsc.ca/gilbert.hmtl: „The Hidden Leica Story", by George Gilbert.
  38. Smith, Ernst Leitz of Wetzlar and Altruism.
  39. Frank Dabba Smith, Angabe gegenüber dem American Jewish Committee Berlin Office. Von dort dem Autor mitgeteilt am 26. Januar 2007.
  40. Publiziert bei der American Photographic Historical Society, 1150 Avenue of the Americas, New York, NY 10036 THE.
  41. „Der Engel der Juden, der die Leica schuf: Der Oskar Schindler der Fotografie - der Leica-Freiheitszug".    ...... , . ...
  42. „Ernst Leitz, der deutsche Industrielle, rettete hunderte angestellte Juden".
  43. Am 20. Juli 1999, während eines Besuches beim Autor dieser Arbeit in Wetzlar, wusste Frank Dabba Smith noch nicht, dass es in Deutschland nach dem Krieg Spruchkammer-Verfahren gegeben hatte. Bei einer Pressekonferenz des Wetzlarer Geschichtsvereins am 15. März 2007 zum Aufsatz von Frank Dabba Smith über Ernst Leitz erklärte Dr. Knut Kühn-Leitz (ein Enkel von Ernst Leitz, seit Jahren in engem Kontakt mit Smith), er habe erstmals 2002 durch mein Buch „Zwangsarbeit in Wetzlar" Kenntnis von der Existenz der Spruchkammer-Akten seines Großvaters Ernst Leitz erhalten. Mitteilung von Alois Rösters (damals Leiter Lokalredaktion Wetzlarer Neue Zeitung), am 20. März 2007.
  44. Mark Honigsbaum, New life through a lens, in: Financial Times Deutschland, 2. Februar 2007.
  45. Die vor dem Jahre 1935 geschlossenen Ehen zwischen Juden und Christen - sogenannte Mischehen - waren nicht verboten. Ab dem 15. September 1935 - nach dem Erlass der „Nürnberger Gesetze" - waren neue Eheschließungen zwischen Juden und Nichtjuden jedoch nicht mehr erlaubt. Die nichtjüdischen Partner in bereits bestehenden „Mischehen" wurden zwar zur Scheidung aufgefordert, diese Ehen wurden aber nicht zwangsweise aufgelöst. Siehe dazu ausfuhrlich Porezag, Als aus Nachbarn Juden wurden, S. 128 ff.
  46. Bei www.youtube.com, www.raincontreras.com und vielen anderen.
  47. Nach der 1. Verordnung zum Reichsbürgergesetz vom November 1935, den so genannten Nürnberger Gesetzen, unterschied man zwischen Voll-, Halb- oder Vierteljuden. Diese Einstufung richtete sich nach der Anzahl der jüdischen Eltern bzw. Großeltern. Vgl. hierzu: Beate Meyer, Jüdische Mischlinge. Rassenpolitik und Verfolgungserfahrung 1933-1945, Hamburg 1999. Siehe auch Porezag, Als aus Nachbarn Juden wurden, S. 25,134 ff.
  48. Ebenda, S. 158 ff.